In Darmstadt gab es bis 1944 auf einem großen Grundstück zwischen der Stiftsstrasse und dem großen Woog eine sogenannte "Knaben-Arbeitsanstalt", später als "Gartenschule" weitergeführt (hier eine Karte von ca. 1905). Sowohl das Stadtlexikon Darmstadt als auch das "DAblog" des Stadtarchivs haben dazu einige Informationen. Die Entstehung dieser Einrichtung in der frühen Zeit bleibt dabei etwas im Unklaren.
Bei der Orientierung helfen soll uns "Ein Bericht über die Entstehung und Entwicklung nach einem 30jährigen Bestande", 1857 herausgegeben vom Vorstand dieser "Knaben-Arbeitsanstalt". Ich habe eine Version bei Google-Books gefunden.
Über die ersten Anfänge heisst es dort:
Es war am 3. März 1827, als die Anstalt mit nur 6 Knaben beim Beginn der Sommerarbeiten im Garten und Feld eröffnet wurde. Zwei und ein halber Morgen noch ganz unkultivierten Sandes, fünfzehn bis zwanzig Minuten von der Stadt entfernt, an der Chaussee nach Roßdorf, nächst der Rosenhöhe gelegen, ein Geschenk des Stadtvorstandes, waren zuerst das bescheidene Feld der Thätigkeit der Kinder.
Ganz eindeutig ist die Stelle nicht beschrieben, es wird sich wohl um die Erbacher Strasse handeln. D.h. die Keimzelle der Anstalt lag m.E. im heutigen "Edelsteinviertel". Auf jeden Fall nicht dort, wo man sie von später kennt. Aber auch so weit draussen war die Sache wohl ein Erfolg.
Das Unternehmen erfreute sich bald einiger Anerkennung, und man war schon im folgenden Jahre im Stand, durch neue Beiträge und kleine Geschenke unterstützt, noch einen Morgen des anliegenden, etwas dankbareren Landes anzukaufen. Zugleich verdankte man der Güte des Gemeindemitglieder Herrn Heyl die Erbauung eines kleinen Gartenhäuschens auf diesem Gelände ... Eine namhafte Unterstützung wurde im Jahr 1831 der Anstalt zu Theil, als der Großh. Oberforstmeister von Pretlack derselben ein Legat von 600fl. hinterließ. Man verwendete diese zu dem Ankauf eines anliegenden Ackers, wodurch sich der Landbesitz auf etwa 4 Morgen erweiterte. ... Eine im Jahre 1835 sich darbietende günstige Gelegenheit zu weiteren Erwerbungen und der bisherige Erfolg ermuthigte, mittelst einer neuen Kapitalaufnahme von 1000 fl. zu weiteren Ankäufen zu schreiten und hierdurch den Garten nun auf 7-8 Morgen Landes auszudehnen.
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Erst viele Jahr später kam man der Stadt etwas näher.
Diese Verhältnisse erlitten bis auf das Jahr 1843-44 keine wesentliche Änderung. Man erkannte es jedoch als einen Mangel, daß, nachdem allmälig die Zahl der Knaben auf sechzig, siebenzig, ja achtzig anwuchs, die Anweisung und Aufsicht mehr Kräfte erforderte und im Sommer namentlich durch die Entfernung des Gartens von der Stadt sehr erschwert war, während zur Winterzeit eine angemessene Beschäftigung einer größeren Anzahl Knaben in gemietheten Lokalitäten, bald hier, bald dort, ferner beinahe unausführbar, überall mit großen Uebelständen verbunden war. ... Damals (1843) ergab sich die Gelegenheit zum Ankauf eines Gartens am Mühlweg, nahe bei der Stadt, der sofort auch für 2715fl. erworben wurde, worauf im folgenden (1844) die Erbauung eines Arbeitshauses und einer Scheuer für 4358fl. folgte.
Auch hier ist noch nicht ganz klar, um welches Grundstück es sich genau handelt, sicherlich noch nicht das später bekannt Gelände. Der
Mühlweg ist der Weg vom kleinen Woog bis hoch zum Jägertor an der Dieburger Strasse, der ab den 1860er-Jahren dann Mühlstrasse genannt werden sollte. Einen passenden Eintrag in das Adressbuch finden wir ab 1847: "Lit. H, Mühlweg 174 Knaben-Arbeits-Anstalt". Leider sind Karten mit Hausnummern rar zu der Zeit. Es gibt eine von 1844, auf der die Nummer 174 noch nicht verzeichnet ist, aber es muss sich um
diese Ecke gehandelt haben. An anderer Stelle im Bericht wird dieses Grundstück auch "ehemals Delp'scher Garten" genannt, was mir aber nicht weiterhilft. Am 28. September 1844 steht im Darmstädter Tagblatt zudem:
Die Blumen-, Früchte- und Pflanzen-Ausstellung des Gartenbau-Vereins zu Darmstadt findet für diesen Herbst in dem von dem Vorstande der Knabenarbeitsanstalt bewilligten neuen Arbeitssaale neben dem botanischen Garten (am Mühlwege, in der Verbindungsstraße zwischen dem Jasgerthore und dem kleinen Wooge) am 28., 29. und 30. September statt. Der Eingang kann durch den botanischen Garten oder durch den jetzt zu jenem Arbeitssaale (vormals dem Hrn. Kammerdiener Delp) gehörigen Garten genommen werden.
1850 kommt dann endlich der große Wurf:
..., so ließ doch die Zersplitterung des Grundbesitzes in zwei von einander entlegenen Gärten, die dafür erforderliche doppelte Aussicht, Zeitverlust für die Arbeiter, eine zweckmäßige Consolidierung der beiden Besitzungen wünschen. Hierzu ergab sich ganz unerwartet im Jahr 1850 eine äußerst güstige Gelegenheit, indem der ungefähr 8 Morgen große Garten der Landes-Waisenanstalt, der, zunächst dem bereits in der Nähe der Stadt erworbenen Garten der Anstalt und unmittelbar vor dem Thor der Stadt gelegen, zur öffentlichen Versteigerung kam und von der Knabenarbeitsanstalt für 3070fl. erworben wurde. Diese Erwerbung brachte mit sich, daß man zum Behuf der Bestreitung des Kaufpreises den nun entbehrlich gewordenen entlegeneren Garten dagenen veräußerte. ... Im Jahr 1850 wurde der eben erwähnte, ohngefähr 8 Morgen haltende Garten der Landeswaisenanstalt, welcher bis dahin als botanischer Garten benutzt worden war, versteigert und durch die Knabenarbeitsanstalt für 3070fl. erworden. Für Gewächshäuschen und sonstige dem Hofgartendirektor Schnittspahn gehörige Anlagen waren weitere 300fl. zu zahlen.
Mit diesem großen Gelände des ehemaligen Waisengartens hatte die Knabenarbeitsanstalt ihre endgültige Heimat gefunden. Es ersteckte sich vom Mühlweg bis nahe an den großen Woog. In den folgenden Jahren wurde es eingeteilt und umgestaltet, und es wurden dort weitere Gebäude errichtet. In der Mitte wurde ein "Arbeitshaus mit Verwalterwohnung" gebaut (siehe Bild 1), zunächst eingeschossig. Das ist das Haus, das man auch noch bis 1944 an der Stiftsstrasse sehen konnte (siehe Bild 2). 1857 (bei Erstellung des Berichtes) ist für dieses Haus schon ein weiterer, linker Flügel geplant.
In den Adressbüchern bleibt bis 1860 die Adresse "Mühlweg 174" gleich, seit einigen Jahren tauchen aber in der Nähe auch schon die "Gebrüder Merck" auf. Ab 1863 heisst der Mühlweg nun "Mühlstrasse", entsprechend lautet der Eintrag "Mühlstraße 174 Knaben-Arbeitsanstalt". Dennoch gibt es auch 1863 einen Mühlweg, das ist aber ab nun nur der Weg von der Mühlstrasse nach Osten (hier auf einer Karte von 1866).
Auf der Karte von 1866 sieht man auch, dass der westliche Teil des fraglichen Geländes bereits von der Merckschen Fabrik und der sich nach Osten ausbreitenden Stadt eingenommen wird. Von Norden ist schon die Stiftsstrasse zu erkennen. Folgerichtig gibt es im Adressbuch 1865 den Eintrag "Mühlstr. 174" nicht mehr, sondern "Stiftsstrasse 14".